21 - Randegg 19

Direkt zum Seiteninhalt

Hauptmenü

21

Opening speech - Albert Kümmel-Schnur, Medienwissenschaftler            (copy right: Albert Kümmel-Schnurr)

Lob der Fülle

Mann, ist das hier vollgestopft. Da kriegt man ja kein Bein an die Erde. Findest Du überhaupt etwas wieder? Ich hätte ja keine Lust, so lange zu suchen, aber, bitte, die Menschen sind ja verschieden. Ich würde mich ja schämen.

Fülle ist kein Qualitätsmerkmal. Fülle ist ein Ärgernis. Wessen Wohnung vollstopft und obendrein gar unaufgeräumt ist, der kriegt's halt nicht hin. Das ist ein Messi, einer vom Rand der Gesellschaft, der kann sich nicht trennen, der hebt jeden Mist auf, da müssen wir mal RTL2, das Jugendamt, die Polizei hinschicken. Fülle, nein, Fülle hat keinen guten Stand. Der Designerladen zelebriert ein paar Schuhe wie ein Kunstwerk, bei Deichmann wird jede Ecke ausgenutzt. Fülle: das ist Trash, das ist billig, das ist geschmacklos. Wer es sich leisten kann, hat Platz.

Und doch war das nicht immer so. War's, seien wir ehrlich, bei irgendwas immer so zu jeder Zeit, an jedem Ort, bei allen Menschen? Nö. Natürlich nicht.

Als mich Titus zum ersten Mal durch's Schloss Randegg führte, da offenbarte sich mir eine Fülle, die kaum zu bändigen war. In jedem Winkel hing ein Bild, kein Platz ungenutzt. Dazwischen Yoruba-Statuen. Auf dem Dachboden lag auch der Fußboden voller Bilder und verschmitzt hob er das eine oder andere große Format an, um zu zeigen, das noch ein anderes, manchmal gar zwei unter seinem Schirm Platz fanden. Titus war offenbar kein Mann für die petitessen der nouvelle cuisine. Und so geht er auch seine Ausstellungsprojekte nicht mit dem Ziel an, die Leere eines japanischen Gartens erreichen zu wollen.

Gleich 12 Künstlerinnen und Künstler, keiner mehr, aber auch nicht ein einziger weniger, zeigen Werke hier auf Schloss Randegg, dem zweiten der sieben Orte, an denen in den nächsten Wochen die Ausstellungen der experimentellen zu sehen sind, 28 Jahre, 19 Ausstellungen, vier Länder – ein Projekt der Superlative. Ein Projekt der großen Geste. Ein Projekt des viel hilft viel. Und, ja, das meine ich nicht negativ. Im Gegenteil. Ich möchte heute einmal den Blick umkehren. In den wenigen Minuten, die Titus mir zur Verfügung gestellt hat, kann ich nicht zwölf künstlerische Positionen vorstellen, ich kann sie kaum nennen. Aber ich kann Sie ermutigen und einladen zu einem Fest der Pluralität, sowohl im Sinne der schieren Quantität als auch der Divergenz des zu Sehenden.

Bilder, diese Position hat Felix Thürlemann in den letzten Jahren immer wieder stark gemacht, stehen ja nicht im luftleeren Raum. Bilder sind immer Bilder im Plural. Wir gehen in eine Ausstellung und nur äußerst selten wird ein Raum nur von einem einzigen Bild, einem einzigen Objekt besetzt. Meist sind es, trivialer- und doch bemerkenswerterweise, mehrere. Wir bewegen uns inmitten einer Anordnung, einer Konstellation von Arbeiten, Werken, vielleicht auch Serien. Einsame Bäume, so hat es der Kreuzberger Dichter Karl Heinz Herwegh, den alle nur „Caesar“ nannten, einmal formuliert, einsame Bäume, die nebeneinander stehen, nennt man Allee. Und eben darum geht es, den Baum und die Allee zu sehen und eines vom anderen nicht trennen zu können. Wer vor einer Wand mit Bildern steht, blickt automatisch auch nach links und rechts. Man muss die Position der Pluralität, des Neben-, Mit- und Ineinanders gar nicht gezielt und bemüht herstellen: sie drängt sich unvermeidbarerweise auf. Sie drängt sich auf in der Weite des Blicks und der Schwierigkeit, ihn festzustellen. Sie drängt sich auf in der Bewegung der Betrachtenden im Raum. Sie drängt sich, last not least, auf durch den konnotativen Raum, der sich ohne unser Zutun einfach öffnet – kein Bild ohne Vorbild, kein Blick ist unberührt, kein Sehen unschuldig. Ferdinand de Saussure würde sagen: ja, eben, genau so und nur so kann Bedeutung entstehen. Nicht im Singular. Nein, nur im Plural, nur in der Serie, nur in der Differenz, nur in der Fülle. Und so ist wohl selbst unser einsames Schuhpaar im Designerlädchen eine gelungen inszenierte Täuschung: der white cube, der es umgibt, soll zwar Unnahbarkeit, Aura und Singularität darstellen. Tatsächlich aber entsteht dieser Effekt nur, weil unser Gehirn den leeren Raum füllt mit Erinnerungen, Ideen, Gedanken, Gefühlen. Und diese Fülle hat vielleicht noch einen sehr viel schlechteren Ruf heutzutage als die zuvor skizzierte Situation übervoller Räume. Schalt doch mal ab! Lass Dich nicht überfluten! Konzentrier Dich! Ruhe da oben! Die Angebote, aus der Ablenkung, der Abschweifung, der Überforderung, dem Lärm herauszufinden, sind zahlreich. Und, das sei gar nicht bestritten, hilfreich. Oder können es sein. Unsere Logik des Immer mehr, immer besser, immer schneller braucht Einhalt. Aber vielleicht gibt es ja auch einen Ort für die Maßlosigkeit, für die Überforderung, für das Zuviel. Vielleicht gibt es eine Lust der Fülle, die mit einer kapitalistischen Überforderungs- oder Überbietungslogik gar nichts zu tun hat. Eine Logik des Exzesses, des Festes, des Überschusses, der Verausgabung.

Anfang des 20. Jahrhunderts machte es die englischen Puritaner verrückt zu sehen, wie ein nordamerikanischer Indianerstamm, die Kwakiutl, sich völlig der kapitalistischen Logik entzogen, Luxusgegenstände wie Schreibmaschinen, Nähmaschinen und Teppiche, Kupferplatten gar anhäuften, sie zu großen Stapeln aufschichteten, um sie dann, ohne sie je genutzt zu haben, einfach wegzugeben oder gar zu zerstören, indem sie sie verbrannten oder ins Meer warfen. Potlatch nannte sich dieses Ritual und dabei ging es um das Geben selbst. Die Fähigkeit, intransitiv zu geben, also ohne die Erwartung, etwas zurückzubekommen, charakterisierte bei den Kwakiutl die Stellung einer Person in der Gesellschaft. Nicht geben, um etwas zu bekommen, sondern geben, um ein Gebender zu sein. Vom Häuptling wurde erwartet, dass er der exzessivste Gebende war. Konnte ein Häuptling nicht mithalten, dann war das äußerst schlecht für sein gesellschaftliches Ansehen und das seiner Familie. Und, furchtbar für die braven Puritaner, die Indianer wurden trotz dieser Verfahren nicht ärmer, sondern immer reicher. Kurzerhand wurde der Potlatch verboten.  

Wir kennen diese Form des sozialen Austausches auch: Geschenke, Höflichkeiten, aber auch Hilfsbereitschaft folgen nicht der Ökonomie der Äquivalenz. Man kann kein Geschenk kaufen. Aber Geschenke stellen Beziehungen her zwischen dem Schenkenden und dem Beschenkten. Und, selbstredend, erzeugen sie eine Hierarchie, sind Gesten der wechselseitigen Überbietung.

Schauen wir also auf die Gaben der Kunst. Was Künstlerinnen, was Künstler geben, sind ja nicht Objekte – der Wert von Kunst bemisst sich nicht im Äquivalent für die aufgewendeten Materialien und die Länge der zur Umsetzung benötigten Arbeitszeit. Der Wert von Kunst – und zwar jenseits, wenn auch nicht völlig unabhängig vom Kunstmarkt – bemisst sich in ihrer Fähigkeit, uns Erfahrungen und Eindrücke zu ermöglichen, die wir ohne sie nicht haben könnten. Kunst gibt zu sehen, zu hören, zu denken, zu fühlen. Je höher die Intensität der so geteilten Erfahrungen, desto besser, oder sagen wir: eindrucksvoller, gelungener vielleicht, ist die Kunst.

Gibt es nun einen Zusammenhang zwischen Intensität und Exzess, Eindruckstiefe und Fülle? Ja. Den gibt es. Haben Sie schon einmal Gemüsebrühe selbst hergestellt oder ein ordentliches italienisches Sugo oder eine Portweinsauce reduziert? Sie brauchen viele Zutaten, und sie brauchen viel Zeit. Langsam zerköchelt intensiviert sich das Aroma, wird so intensiv, dass es unverdünnt kaum zu genießen ist.

In der Kunst sind es zunächst die Künstlerinnen und Künstler, die diesen Prozess durchlaufen – Eindrücke sammeln, Erfahrungen, Techniken üben –, der dann zu großer Meisterschaft führen kann. Diese besteht ja in nichts anderem als der Fähigkeit mit geringsten Mitteln höchste Intensität zu erzeugen. Ohne vorhergehende Fülle geht das aber nicht. Und jetzt Sie. Sie alle. Wenn Sie genießen wollen, brauchen Sie Erfahrungen und zwar nicht einige wenige, sondern viele, so viele wie möglich. Wer täglich mit Kunstwerken umgeht, sieht mehr und sieht schneller etwas als jemand, der das nur ab und an tut. Ich möchte das jetzt nicht am Beispiel 'Wein' noch einmal verdeutlichend durchspielen, sonst wird mir noch der Vorwurf gemacht, ich empföhle Alkoholismus.

In Florenz habe ich mich 1996 einen ganzen Monat lang aufgehalten und jedes mir irgendwie zugängliche Museum, jede Kirche besucht. Es war Ziel des Aufenthalts, soviel Kunst zu sehen, wie nur irgend möglich. Am allerletzten Tag war mir schlecht. Sehschlecht. Meine damalige Freundin wollte noch einmal diese wunderbare Donatello-Verkündigung sehen, die es ihr so angetan hatte. Ja, warum nicht, wir haben noch Zeit, bis der Zug geht. Oh Gott! Ich hatte die schweren Türen der Kirche Santa Croce kaum aufgemacht, da musste ich mich wie geblendet wieder abwenden. Ich konnte keine Kunst mehr sehen. Giotto tat mir in den Augen weh. Ich hatte das Gefühl, mich auf der Stelle übergeben zu müssen. Geh allein. Ich bleibe draußen.

Und würde ich das wieder tun? Ja, jederzeit. Sofort. Wer wäre ich denn, Sokrates selbst, dem Urbild aller Philosophen zu widersprechen: „Nun aber werden die größten aller Güter uns durch den Rausch zuteil, wenn er als göttliches Geschenk verliehen wird.“ (Platon, Phaidros)

Doch Exzesse sind auch nur in der Differenz Exzesse. In der Differenz zum allzu unexzessiven Alltag Exzesse. Ich empfehle keine Sucht als Dauerzustand, aber ich empfehle die gezielte, wenn auch zeitlich beschränkte Überforderung. Kwakiutl-Häuptlinge führten den Potlatch ein oder zwei Mal im Leben durch. Die experimentelle gibt es nur alle zwei Jahre. Geben Sie sich die Überfülle. Geben Sie sie sich hier und heute in Randegg. Wählen Sie nicht aus, sondern lassen sich treiben. Besuchen Sie die anderen Orte. Nehmen Sie mit, was geht. Halten Sie nicht fest, sondern lassen Sie los. Das ist die beste Methode. Lassen Sie sich selbst los und lösen Sie sich auf. Werden Sie Blick. Lassen Sie das Rot hier vom Blau dort übermalen. Die Strenge und das Lässige. Zwei- und Dreidimensionale und alles dazwischen. Gucken Sie soviel, bis Sie sich nicht mehr erinnern können, was Sie eigentlich gesehen haben.

Und dann kommen Sie vielleicht zurück. Sehen noch einmal nur diese eine Skulptur, dieses eine Bild an. Glauben Sie mir: Sie können sich nicht finden, wenn Sie nicht bereit sind loszulassen. Geben Sie der Kunst eine Chance, Sie zu überwältigen. Und wunderbar, lieber Titus, dass Du uns einlädst, so vieles, so viele und so Verschiedenes sehen zu dürfen. Danke.                                  www.kuemmel-schnur.de

1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 9 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | 15 | 16 | 17 | 18 | 19 | 20 | 21 | info | Generelle Seitenstruktur
Zurück zum Seiteninhalt | Zurück zum Hauptmenü